Florian Böhm
Wait for Walk
Die Werkgruppe Wait for Walk aus dem Jahr 2005 kann letztlich als eine Art Anthropologie der Großstadtmenschen verstanden werden: Studien wartender Passanten an Ampeln in New York in wechselnden und flüchtigen Konstellationen, erzeugt und arretiert durch den Rhythmus der Metropole, unbemerkt von Florian Böhm festgehalten. Die Serie ist unter klar definierten Rahmenbedingungen entstanden und erinnert an das „Dérive-Konzept“ der Situationisten, bei dem durch Aufnahmetechnik subjektive, bildgestalterische Einflüsse des Fotografen vermieden werden sollen um somit ein möglichst objektives Abbild urbaner Wirklichkeit zu erreichen. In der Serie Wait for Walk gibt der Rhythmus des Verkehrsflusses den Takt vor und es entstehen so kurzzeitige Konstellationen, flüchtige Gruppenbilder, die sich selbst formieren. Florian Böhm fotografierte meist unbeobachtet und im Zeitfenster vorbeifahrender Autos, so wird der Verkehrsfluss zum Verschlussvorhang und es entstehen Momente großer Authentizität. In ihrer präzisen Aufzeichnung des Geschehens offenbaren die Bilder bei aller Anonymität der Protagonisten ein fesselndes Panoptikum menschlicher Individualität und nonverbaler Kommunikation.
„In den Fotografien aus „Wait for Walk“ sind die dargestellten Personen nicht als anonymes Massenornament wiedergegeben sondern in ihrer Individualität erkennbar … . Wir erkennen ein differenziertes Spektrum an Großstadtbewohnern aus sämtlichen Altersstufen und ethnischen Identitäten. Doch wer sind diese Menschen, woher kommen sie, wohin gehen sie? Man ist versucht in Anlehnung an Paul Gauguins berühmtes gleichnamiges Gemälde „Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir?“ diese existentiellen Fragen zu stellen.“
Textauszug aus dem Katalog Wait for Walk „Zur Physiologie der Straße oder das Schauspiel des urbanen Lebens“ von Dr. Ulrich Pohlmann
Diese Art des Einfangens verschiedener Charaktere führt dabei zu einem Changieren zwischen verschiedenen Stilen des künstlerischen Ausdrucks: die Intention des unbeobachteten Augenblicks erinnert zum einen an die Tradition der Amerikanischen Streetphotography von Helen Levitt, Sid Grossman, Lisette Model, William Klein oder auch an die Museumsbilder Thomas Struths. Gleichzeitig sind Böhms Arbeiten in Wait for Walk in ihrer Ästhetik der inszenierten und kalkulierten Fotografie Jeff Walls oder Phillip Lorca diCorcias nahe. Ein besonderer Reiz der neuen Arbeiten Böhms liegt in dem zufälligen Zusammenkommen mehrerer Menschen mit der Ästhetik einer bühnenhaften Inszenierung: eine moderne Umkehrung des Prinzips des barocken holländischen Gruppenporträts.
Reading the City
Mit dem gemeinschaftlichen Archiv-Projekt Endcommercial®, Reading the City (zusammen mit Wolfgang Scheppe und Luca Pizzaroni) erlangte Florian Böhm erste internationale Anerkennung. Das Projekt wurde 2002 vielfach erfolgreich International in renommierten Museen und Institutionen ausgestellt und als Buch im Hatje Cantz Verlag publiziert.
Am Beispiel New Yorks dokumentiert die bildlexikalische Arbeit der drei Künstler Strukturen der urbanen Improvisation und zeigt Strategien des Zurechtkommens in der Ökonomie der Straße. Sie macht sichtbar, wie der Mensch seine Umgebung – Laternen, Abfalleimer, Getränkekisten, Einkaufswagen, Ladenschilder oder Plastiktüten – nutzt, formt und zweckentfremdet. Durch die Selektion und die Ordnung in einem typologischen System werden subkulturelle Konventionen und vergegenständlichte soziale Widersprüche der Stadt erkennbar. Überrascht gewinnt der Betrachter plötzlich Einsicht in die Differenz vom oft Gesehenen und niemals Registrierten.